Lareyna

Aus Vesperpedia
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Vorwort:

Wenn man in einem Waisenhaus groß wird, lernt man viele Lektionen. Man lernt auf sich aufzupassen, weil es meisten sonst niemand tut. Man lernt auch sich zu verteidigen. Man lernt selbstständig zu werden, denn es gibt einfach keine Eltern, die einem alles abnehmen. Man lernt alleine zu sein, ohne wirklich jemals alleine zu sein. Man lernt auch, dass man beim Essen schnell sein muss, wenn man nicht hungrig ins Bett gehen möchte. Man lernt sich an Regeln zu halten. Man lernt Regeln zu umgehen und mit Strafen zu leben.

Am Ende lernt man noch tausend Dinge mehr, die anderen Kindern die in einer Familie groß werden, vielleicht erspart bleiben. Vielleicht.

Es gibt aber auch gute Dinge die man lernt. Zum Beispiel Freunde zu finden, wenn man Glück hat. Zusammenhalt. Und auch Abschiede lernt man kennen und man gewöhnt sich daran. Kein Kind lebt freiwillig in einem Waisenhaus. Sie alle haben ein Grund dort zu landen. Ich auch. Der Grund war, dass meine Eltern mich nicht haben wollten. Warum? Das wüsste ich selbst gerne. Konnten sie sich nicht um mich kümmern? Wollten sie es nicht? Der Moment, in dem ich erfahren habe, dass meine Eltern nicht gestorben sind, sondern selbst die Wahl getroffen hatten ihr Kind wegzugeben, hat für mich alles verändert. Nicht gewollt zu sein, verändert einen.


Im Waisenhaus

„Rey, bewegt sofort deinen Hintern hierher und hilft die Sauerei wegzumachen!“

Die Stimme dröhnte durch das ganze Haus und für einen Moment versuchte ich mich einfach noch einen Moment hinter dem Buch zu verstecken, bevor ich es doch seufzend beiseite legte. Das wäre eigentlich meine Mittagspause gewesen. Eigentlich. Denn sowas gab es nicht wirklich. Ich war einer der Ältesten und mit beinahe 13 blieb es dann doch an mir hängen, mich um alle Kleineren mitzukümmern. Seit ich denken konnte war ich bereits im Waisenhaus und seit ich im Alter von 6 Jahren eher durch Zufall erfahren hatte, dass meine Eltern mich einfach vor dem Waisenhaus abgelegt hatten, war die Hoffnung darauf jemals eine neue Familie zu finden deutlich gesunken. Wir mussten alle mithelfen und hatten unsere Aufgaben, für Schule und lernen blieb da wenig Zeit und wenn nicht das Königshaus die Hausmutter gezwungen hätte, uns wenigstens für ein paar Stunden in die Schule zu schicken, hätte ich im Schlimmsten Fall nicht mal lesen gelernt. Das wäre wirklich ein Drama. Auch wenn man nicht vermissen kann, was man nicht kennt, kann ich mir ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen. Bücher haben mich gerettet, weil ich daraus lernen konnte. Und da wir ab und an sogar in die Bücherei in Britain durften, konnte ich mich immer mit genug neuem Lesestoff eindecken. Und wenn wir nicht durften, fand ich sowieso immer einen Weg.

Zweimal war ich in eine Familie gekommen, nur um nach wenigen Tagen zurückgeschickt zu werden.

Danach hatte ich mir auch keinerlei Mühe mehr geben, im Gegenteil, ich versuchte es eher zu vermeiden noch einmal irgendwelchen Familien zugeteilt zu werden. Denn sobald ich alt genug war zu verstehen, was um mich herum passirte, was geschah wenn ich wütend wurde, oder ängstlich, wusste ich auch warum ich nirgendwo länger blieb und irgendwann kam auch der Moment, als ich zu verstehen begann, oder zu erahnen, warum meine Eltern mich dort abgelegt hatten. Aber ich sprach niemals darüber. Mit niemandem.

Nur ab und an wenn ich alleine war, oben in dem kleinen Verschlag im Garten, den wir gemeinsam gebaut hatten, oder unten im stillen Keller, wenn ich einmal wieder Mist gebaut hatte, dann huschten meine Blicke immer und immer wieder über meine Hände, meine Finger und ich fragte mich ernsthaft, was das zu bedeuten hatte. Sie waren vollkommen gewöhnlich. Klein, schmal, nicht besonders kräftig, aber dafür doch mit einigen Schwielen. Was würde das wohl für mein Leben bedeuten? Ich war einiges gewohnt und auch Schmerzen waren mir nicht vollkommen fremd. Also würde ich wohl überleben. Das Einzige was sie durch den Tag brachte waren Bücher und Geschichten und...zu Malen. Schon seit ich denken kann, hatte ich immer gemalt oder gezeichnet, wenn ich irgendeinen Stift in die Hand bekommen hatte. Oft mussten auch die Wände im Waisenhaus daran glauben. Dieses eine Mal, als ich im Schuppen einige Töpfe mit Farbe entdeckte und einfach zu malen begann. Die komplette Wand war bedeckt mit einer surrealen Waldszene, mit fantasievollen Gebilden, einem alten Nöck am Weiher, Feen, die sich auf den ersten Blick verborgen hielten, einem Einhorn, dass eine Blume fraß welche man niemals in der Wirklichkeit finden würde und überall durch die Bäume stahlen sich hellgelbe Lichtstrahlen. Und mitten in der Waldszene stand ein Zigeunerwagen. Er wat rot gestrichen mit violetten Rädern, goldenen Ornamenten an den Speichen, gemalte Spindeln, verschlungene Ranken und fantasievolle Blumen in allen möglichen Farben. Ein Heim für Wanderer. Ich hätte mein ganzes Leben an dem Bild weitermalen können, wenn es nicht nach einer Woche entdeckt worden wäre. Das Gebrüll der Hausmutter war wahrscheinlich bis nach Britain zu hören als sie sich über den sentimentalen Scheiß aufregte, den ich an die Wand gebracht hatte. Ich war diejenige die heiße Tränen vergoss, als ich jedes einzelne Fleckchen meines Traumes mit brauner Farbe übermalen musste.

Wahrscheinlich wäre ich dort geblieben für immer, wäre langsam immer mehr geschrumpft, bis am Ende nichts mehr von mir übrig geblieben wäre. Wenn da nicht eines Tages jemand aus dem Palast das Waisenhaus besichtigt hätte. Natürlich mussten wir Älteren uns oben verbergen während nur ein paar ausgewäühlte kleine Kinder unten Spalier stehen durften. Also hielten wir still. Ich war nicht im Zimmer geblieben, sondern verbarg mich auf dem Treppenabsatz und sah durch einen Spalt hinunter. Das kleine Buch, welches unten lag, welches halb unter eine Kommode gerutscht und deswegen dem ersten Blick verborgen geblieben war, gehörte mir. Darin waren Zeichnungen, Skizzen, manchmal sogar nur Gekritzel wenn im Keller nicht genug Licht für mehr war. Einer der Männer hob es auf und begann darin zu blättern. Den Anblick seines Miene werde ich nie vergessen. Erstaunen und deutlich beeindruckt schien er immer wieder die Seiten anzusehen. Natürlich verneinte die Hausmutter die Frage, ob sie wüsste wem das Buch gehörte, sie bot ihm sogar an es mitzunehmen. Vollkommen still sah ich also zu wie es in seine Tasche glitt. Es spielte keine Rolle, dass ich es verloren hatte, denn ich hatte ein viel wichtigeres Geschenk im Gegenzug erhalten. Ich wusste endlich, dass ich in etwas gut war. Für einen Augenblick fühlte ich mich nicht mehr wertlos, sondern wichtig. Es spielte für mich auch keine Rolle was er mit dem Buch machen würde. Mir wurde nur endlich klar, dass ich mehr konnte, als kleine Kinder zu beaufsichtigen, zu kochen und zu putzen.

Von dem Augenblick an änderte sich alles. Schleichend, aber einfach nicht mehr zu verdrängen war das Gefühl, dass dieses Leben nun ein Ende hatte, dass ich raus musste. Ich hatte es satt immer nur die Verantwortung zu übernehmen für alle und jeden. Aber vor allem hatte ich es satt, mich ständig verabschieden zu müssen. Erst musste ich mich um die Kleineren kümmern und man hatte sie doch meistens schnell ins Herz geschlossen. Irgendwann waren sie weg, zumindest die meisten und all jene die blieben, waren auch nicht unbedingt meine engsten Freunde. Ich wollte mehr.

Also ging ich irgendwann.

Mit dem wenigen was ich besaß in der Tasche einfach nach draußen und die Straße entlang. Ich sah mich nicht mal um. Für einige Jahre wanderte ich durch die Städte und über die Inseln, nahm kleine Arbeiten an, hielt mich mehr oder weniger über Wasser. Ich lernte zurecht zu kommen und das bedeutet hin und wieder die Finger nach Dingen auszustrecken, die mir nicht gehörten. Zu Beginn hatte ich noch ein schlechtes Gewissen, als ich zum ersten Mal hastig in einer dunklen Ecke von Vesper einen geklauten Apfel verschlang, damit endlich der schmerzende Magen Ruhe gab. Irgendwann aber war es einfach so. Wenn ich konnte, hinterließ ich wenigstens ein paar Münzen, sobald sich welche in meiner Tasche befanden. Das ändert aber nichts an der Tatsache. Es ändert auch nichts daran, dass ich eine Weile in Vesper jeden Auftrag angenommen habe um mich über Wasser zu halten. Und auch nichts daran, dass ich dennoch oft genug gehungert habe, dass die Nächte auf der Straße für eine junge Frau beinahe kaum zu bewältigen waren. Überlebt habe ich dennoch. Aber das ist auch schon alles. Man sieht keine Narben, wenn man mich anblickt, aber vieles sitzt so tief, dass ich niemals darüber sprechen werde. Niemals.

Irgendwann habe ich selbst bemerkt, dass ich nicht in Vesper bleiben werde. Mich zog es zurück nach Britain, ohne dass ich genau sagen konnte warum. Am Ende war es Brenau, wo ich eine einfache Unterkunft fand. Das Gold für die Miete war dennoch hart verdient. Nicht viel mehr als ein Bretterverschlag mit undichtem Dach und zugigen Fenstern ohne Glas. Aber immerhin eine Tür und ein Dach über dem Kopf. Für den Moment, war ich angekommen.

Das Leben in Brenau

Ich war nun bereits einige Wochen in Brenau und begann mich einzuleben. Ich kannte die Bewohner dort, ich wusste wo ich hingehen musste wenn ich etwas brauchte, wer großzügig war und wem ich besser aus dem Weg ging. Der Weg nach Britain war nicht weit und dort gab es eigentlich immer irgendwo Arbeit. In den Abendstunden zog es mich dann in den Tagebau. Die Miner arbeiteten selten in der Dunklelheit, am Anfang scheuchte man mich noch weg bis ich mir meine Anwesenheit durch die ein oder andere Schlepparbeit verdient hatte. Eine Weile probiert ich es sogar damit Stein zu schlagen, aber meine Kraft reichte nicht einmal annähernd dafür aus auch nur irgendetwas zu finden. Außerdem war ich ununtebrochen einfach nur hungrig. Aber ich musste dort sein. Irgendetwas dort zog mich an und ich konnte nicht anders als bis ich vollkommen müde war über den Steinbruch zu laufen. Manchmal war es beinahe so als würde mich etwas lenken in eine Richtung ziehen, aber alles was ich fand waren nur graue Steine und Reste von Erzen. Was ich allerdings lernte war, dass die Erze, die viele zu Tage beförderten garnicht der richtige Schatz war. Eines Tages erlebte ich, wie einer der Miner einen Edelstein fand, so groß wie die Hand glänzte er silber weiß im schwindenden Sonnenlicht und brach bunte Lichtsprenkel. Ich werde sicher auch nie vergessen, wie die anderen davon sprachen, dass der Arbeiter wohl nun ausgesorgt hätte, wenn der Stein "rein" wäre. Nur ein einziger Edelstein. Von dem Gedanken kam ich nicht mehr los. Auf einmal wusste ich, wonach ich suchen musste und schnell bemerkte ich, dass ich zielsicher Stellen fand, an denen sich immerhin kleine Steine befanden. Nicht viel wert, aber gerade soviel, dass ich mir davon mein Leben irgendwie finanzieren konnte. Der Traum, einmal einen der großen Steine zu finden, blieb allerdings.

Und dann, an diesem einen Tag, änderte sich mein Leben mit einem Schlag. Da stand er an der Bank von Brenau, ein riese von einem Mann. Naja, Riese ist vielleicht etwas übertrieben, aber war sicher mehr als einen Kopf größer als ich. Zuerst sah ich nur den Rücken und einige zerzauste blonde Haare, in denen viele Strähnen ausgebleicht waren. Wahrscheinlich war er also viel draussen, in der Sonne. Dann hörte ich seine Stimme. Er plauderte mit der Bankiersfrau, die ihn ohne Zweifel anhimmelte. Aber richtig hoch schlug mein Herz als er sich umdrehte. Die Augen blickten mich direkt an und ich konnte nicht wirklich ausmachen, ob sie nun grün oder blau waren, das Gesicht gebräunt, ein leichter Dreitagebart. Irgendetwas in seinem Gesicht, seinem Blick traf mich.

Vielleicht wäre unsere erste Begegnung anders verlaufen, wenn nicht mein Magen so wahnsinnig geknurrt hätte. Habe ich erwähnt, dass ich unausstehlich bin wenn ich hungrig bin? Allerdings verlief sie genauso, mit vielen Spitzen und breitem Grinsen. In dem Moment wussten wir es wohl beide noch nicht, dass wir genau jetzt einen Freund fürs Leben gefunden hatten.

Am Ende war er irgendwie mein Retter. Er gab mir die Möglichkeit für ihn zu arbeiten und mit jeder Stunde, die wir miteinander verbrachten, wurde die Beziehung, zumindest für mich, inniger. Ich mochte ihn, sogar sehr. Er brachte mich zum Lachen und ab und an konnte ich wirklich einfach alles vergessen wenn wir auf dem Markt saßen und warteten, dass Kunden kamen. Ich durfte mit ihm ausreiten, wir machten uns auf die Suche nach Finnpferden. Wir saßen zusammen in meinem Haus und unterhielten uns, lachten. Mit der Zeit wurden wir einfach vertrauter. Ich begann ihm zu vertrauen und ich kann mich nicht erinnern, wann es das letzte Mal geschehen ist. Dennoch spürte ich deutlich, dass er zurückhaltend war, vorsichtig. Mit der Zeit begann er ein wenig zu erzählen, aber dennoch verstand ich nicht so genau, was passiert war, warum er sich so von allem abwandte. Obwohl er mehrfach zu Besuch in meiner Hütte war, wusste ich noch immer nicht wo er lebte. Ich kannte also ihn ein wenig, ich kannte sein Pferd, aber viel mehr...nein.

Wir hatten Gemeinsamkeiten, keine Familie, aber dennoch waren wir vollkommen unterschiedlich aufgewachsen. Wir mussten beide bald alleine zurechtkommen, aber unsere Wege verliefen dennoch in vollkommen unterschiedlichen Richtungen. Wir hatten beide unsere Erfahrungen, aber am Ende trug jeder von uns ein vollkommen anderes Talent in sich.

Vielleicht waren das einfach Grundlagen für ein Grundvertrauen, dass uns denke ich beiden eher fremd war. Zu Beginn war es noch etwas seltsam, WIE nett er war. Doch spätestens als er sich irgendwann begeistert über meine Augen äußerte, konnte ich nicht mehr wirklich verbergen, dass mir dieses Kompliment gefiel. Es war als würde er mein Seelenleben verstehen. Während ich aufgewachsen war, konnte ich mich wirklich auf niemanden verlassen, nur auf mich selbst. Deshalb legte ich soviel Wert auf meine Unabhängigkeit. Und deshalb fiel es mir eigentlich auch schwer mich an jemanden enger zu binden. Ich war einfach schon immer von Natur aus eine Einzelgängerin gewesen und eigentlich wollte ich es dabei belassen. Doch dann kam dieser Mann und durchbrach auf einmal alle Schranken.

Und damit taten sich die ersten Probleme auf. Ich hatte mich verliebt. Auf den ersten Blick und mit dem ersten Nasenstubsen. In sein Pferd. Nachdem ich es sogar reiten durfte, wuchs stetig der Wunsch ein eigenes Tier zu besitzen. Der Gedanke an die Freiheit, daran immer wegreiten zu können wurde für mich allgegenwärtig. Seine Taten, sein Handeln, die Gespräche die wir hatten über unsere Vergangenheit, öffneten auf einmal Türen und gaben mir einen Blick frei auf ein Leben, dass ich eigentlich nicht mehr für mich gedacht hätte. Was also wenn er recht hatte? Wenn das alles möglich war, wo er es doch ebenso geschafft hatte?